Seit Menschengedenken bedeutet eine schwere Rückenmarksverletzung den dauerhaften Verlust der Gehfähigkeit. Ein französischer Medizinforscher mit Sitz in der Schweiz hat ein Interface entwickelt, welches querschnittsgelähmten Menschen wieder zum Gehen verhilft. Professor Grégoire Courtine hat eine elektronische »Brücke« konstruiert, die das Gehirn des Patienten nach einer Verletzung wieder mit dem lumbalen Rückenmark verbinden kann.

Grégoire Courtine ist seit 2019 Professor an der EPFL und forscht zu neuen Therapien bei Störungen des zentralen Nervensystems, ­insbesondere bei Rückenmarksverletzungen. Gemeinsam mit der Neurochirurgin Jocelyne Bloch leitet der Franzose das Zentrum Neurorestore, das von Logitech-Gründer Daniel Borel finanziert wurde. Über 50 Mitarbeitende entwickeln dort neue chirurgische und neurologische Ansätze. Involviert sind die EPFL, das CHUV und die Universität Lausanne. Courtine erklärt: «Bei Neurorestore arbeiten wir extrem translational – wir gehen von der Grundlagenforschung in die Klinik und mit Fragen aus der Klinik wieder zurück ins Labor.» Aktuell arbeite sein Team an sechs klinischen Studien parallel, auch für neue Therapieansätze nach Schlaganfällen und bei Parkinson.

2016 gelang dem Curtine-Team zum ersten Mal eine Rehabilitation bei Ratten mit einer Rückenmarksverletzung. Nach monatelangem Training konnten sich die Tiere, unterstützt durch ein Förderband und später einen Roboter, der einen Teil des Körpergewichts trägt, wieder bewegen. Noch bevor die dazugehörigen Publikationen veröffentlicht wurden, holte der damalige EPFL-Direktor Patrick Aebischer, selbst ein Mediziner und Neurowissenschaftler, Courtine nach Lausanne und brachte ihn mit Neurochirurgin Jocelyne Bloch vom Universitätsspital Lausanne (CHUV) in Kontakt. Die Kooperation mit Bloch eröffnete dem Neurowissenschaftler neue Wege: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Technologie nur im Modell mit Zebrafischen, Mäusen, Ratten und Makaken erforscht. Nun konnte er den Sprung zum Menschen wagen. Im Oktober 2016 implantierte Bloch am CHUV erstmals einem Patienten das von Courtines Gruppe entwickelte System.

Das mit Drahtlostechnik unterstützte Brain-Spine-Interface überträgt Signale vom Gehirn und steuert die Bewegung über die elektrische Stimulation des unteren Rückenmarks. Diese gezielte Stimulation kann eine Bewegung der Beine erzeugen, die mit den natürlichen Bewegungssignalen des Gehirns übereinstimmen. Das neuroprothetische Brückenimplantat kann die willentliche Kontrolle über die Beinmuskulatur sofort wiederherstellen und eine intensive Gangrehabilitation ermöglichen. Dadurch wird wiederum das Wachstum von Nervenzellen im Rückenmark angeregt, was schließlich zu einer langfristigen Erholung der gelähmten Beinmuskeln führt und die Notwendigkeit der Brücke selbst verringert.

Bisher konnte er schon einigen Langzeitgelähmten in seinen Studien helfen. Er ermöglichte ihnen auf Krücken zu stehen und kurzzeitig mit diesen zu gehen. Das Konzept dieser Brücke ist in umfangreichen präklinischen Forschungsarbeiten validiert worden. Als nächsten Schritt und Wirksamkeits­nachweis wird Courtine eine klinische Studie mit vier Patienten durchführen, die seit mehr als einem Jahr gelähmt sind. Ziel ist es, die Beziehung zwischen den Signalen des Gehirns und der Stimulation des Rückenmarks besser zu verstehen.

Professor Courtine und sein Team veröffentlichten die Ergebnisse der Studie im NATURE.

Eine Rückenmarksverletzung unterbricht die Kommunikation zwischen dem Gehirn und dem Bereich des Rückenmarks, der für das Gehen zuständig ist, was zu Lähmungen führt. Wir haben diese Kommunikation mit einer digitalen Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark wiederhergestellt. Dies ermöglicht einer Person mit chronischer Tetraplegie ermöglicht, in der Gemeinschaft zu stehen und zu gehen. Diese Schnittstelle zwischen Gehirn und Wirbelsäule (BSI) besteht aus vollständig implantierten Aufzeichnungs- und Stimulationssystemen, die eine direkte Verbindung zwischen kortikalen Signalen und der analogen Modulation der epiduralen elektrischen Stimulation herstellen, die auf die Rückenmarksregionen abzielt, die an der Produktion des Gehens beteiligt sind. Ein äußerst zuverlässiger BSI wird innerhalb weniger Minuten kalibriert. Diese Zuverlässigkeit ist über ein Jahr hinweg stabil geblieben, auch bei der selbstständigen Verwendung zu Hause. Der Teilnehmer berichtet, dass der BSI eine natürliche Kontrolle über die Bewegungen seiner Beine ermöglicht, um zu stehen, zu gehen, Treppen zu steigen und sogar komplexes Gelände zu durchqueren. Weiterhin verbesserte die durch den BSI unterstützte Neurorehabilitation die neurologische Genesung. Der Teilnehmer war wieder in der Lage, mit Krücken über den Boden zu gehen, obwohl die BSI ausgeschaltet war. Diese digitale Brücke schafft einen Rahmen für die Wiederherstellung der natürlichen Bewegungskontrolle nach einer Lähmung.

Um zu gehen, übermittelt das Gehirn ausführende Befehle an die Neuronen im lumbosakralen Rückenmark. Obwohl die meisten Rückenmarksverletzungen diese Neuronen nicht direkt schädigen, unterbricht die Unterbrechung der absteigenden Bahnen die vom Gehirn abgeleiteten Befehle, die für diese Neuronen notwendig sind, um das Gehen zu ermöglichen. Die Folge ist eine dauerhafte Lähmung.

Wir haben bereits gezeigt, dass eine epidurale elektrische Stimulation, die auf die einzelnen dorsalen Wurzeleingangszonen des lumbosakralen Rückenmarks abzielt, die Modulation spezifischer motorischer Beinpools ermöglicht. Die Rekrutierung dieser dorsalen Wurzeleingangszonen mit vorprogrammierten räumlich-zeitlichen Sequenzen repliziert wiederum die physiologische Aktivierung der motorischen Pools der Beine, die dem Stehen und Gehen zugrunde liegen. Diese Stimulationssequenzen ermöglichten es Menschen mit Lähmungen aufgrund einer Rückenmarksverletzung, wieder zu stehen und zu gehen. Diese Wiederherstellung erforderte jedoch tragbare Bewegungssensoren, um motorische Absichten aus Restbewegungen oder kompensatorische Strategien zur Einleitung der vorprogrammierten Stimulationssequenzen zu erkennen. Folglich wurde die Steuerung des Gehens nicht als völlig natürlich empfunden. Überdies waren die Teilnehmer nur begrenzt in der Lage, ihre Beinbewegungen an wechselndes Terrain und willentliche Anforderungen anzupassen.

Hier schlagen wir vor, dass eine digitale Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark die willentliche Kontrolle über den Zeitpunkt und die Amplitude der Muskelaktivität ermöglichen würde, um eine natürlichere und adaptive Kontrolle des Stehens und Gehens bei Menschen mit Lähmungen aufgrund von Rückenmarksverletzungen wiederherzustellen.

Studie von Courtine und seinem Team – veröffentlicht im Nature am 24.05.2023 – https://www.nature.com/articles/s41586-023-06094-5#Sec1

Diese Forschungen werden die technologischen und konzeptionellen Rahmenbedingungen schaffen, um ein vollständig implantierbares Verbindungsstück zwischen Gehirn und Wirbelsäule zu entwickeln. Dies können eines Tages eine medizinische Behandlung für Menschen ermöglichen, die aufgrund einer Rückratsverletzung nicht mehr gehen können. Dadurch wäre es möglich, tausenden Menschen wieder eine Lebensqualität zu schenken. Für seine Arbeit wurde Courtine mit dem Rolex-Award ausgezeichnet.

Text- und Bildquellen: Horizonte-Magazin, NATURE, Rolex Preise